Demokratie: Natürlicher Schutz gegen den Rechtsruck
2024 – Das absolute Wahljahr. Darüber herrscht breiter Konsens, auch zwischen politischen Parteien, die nichts sonst gemein haben. In einer stark polarisierten Gesellschaft bedeutet dieses Jahr für viele „alles oder nichts“. Wir wissen schon, dass Nichts unwahrscheinlich ist und dass für einige das Undenkbare doch möglich ist.
Die westliche Welt hat es zum ersten Mal mit der Brexit-Abstimmung, dann mit Trumps Sieg und schließlich mit Putins Großoffensive in der Ukraine erlebt. All das wurde von einem Großteil der Bevölkerung als unglaublich und unerwartet wahrgenommen. Mit dem verschärften Rechtsruck in der Politik überall in Europa, wie wir ihn bei den Wahlen in Italien, den Niederlanden, der Slowakei und vor Kurzem in Portugal erlebt haben und in vielen anderen Ländern aus den Umfragen erwarten müssen, wie wahrscheinlich ist es, dass bald jede Regierung aus rechtsextremen Kräften besteht?
Der Rechtsruck ist auch im nächsten Europäischen Parlament laut Umfragen zu erwarten. Darum stelle ich mir die Frage: Wollen wir wirklich, dass kurz vorm Beginn der lang ersehnten EU-Reform der rechtsextremen Parteien eine größere Verhandlungsmacht zugesichert wird? Und dann die daraus resultierende Frage:
Ist es denkbar, dass unsere Europäische Union bald auseinander gehen kann? Wieso nicht?
Den Austritt aus der EU fordern so gut wie fast alle rechtsextremen Parteien und sie können ihre Wähler:innen derzeit sehr wohl überall in Europa mobilisieren.
Also nochmals, wir haben ein entscheidendes Wahljahr vor uns und einen Rechtsruck. Das sind die Fakten. Was machen dann aber alle anderen Parteien, die derzeit eindeutig auf der Verliererseite stehen?
Zunächst muss man feststellen, dass sie keine klare Positionierung und Strategie gegen den Rechtsruck haben. In Österreich verlassen sich alle Großparteien auf die Trägheit des politischen Wandelns. Die alten Spielkarten werden neu verteilt und sie sollten schon welche kriegen. Egal welche. Hauptsache sie bleiben im Spiel, ohne Innovation, ohne Plan, ohne Strategie.
Und die Wähler:innen?
Die Kernwähler:innen sind gesichert. Jedoch geht es vor allem um die Wechsel- und Neuwähler:innen, wenn den vorhergesagten Rechtsruck eingedämmt sein sollte. Und diese Stimmen hätte vor allem die FPÖ bekommen, wie aus den letzten Umfragen ersichtlich (Reihenfolge per 15.03.2024: FPÖ, SPÖ, ÖVP, NEOS, GRÜNE, BIER, KPÖ).
Quelle: APA
Fast alle sonstigen Parteien sind im linken politischen Spektrum angesiedelt. Nur noch die ÖVP schlägt sich eindeutig auf die rechte Seite, aber auch sie kämpft gegen die FPÖ an, weil sie deren Wähler:innen braucht. Also, haben wir sechs bedeutsame Parteien, die alle gegen die FPÖ sind, und trotzdem können sie nichts gegen den klaren Rechtsruck im politischen Willen der Österreicher:innen seit mehr als einem Jahr tun. Der Trend ist somit dauerhaft.
Was versäumen sie? Auf jeden Fall Chancen.
Brexit, Trumps Sieg und die Eskalation des Kriegs in der Ukraine sind aufgrund der nicht gelebten Demokratie geschehen. Die ungehörten Stimmen haben schwache Signale, die für die etablierten politischen Parteien oft unbemerkt bleiben, aufgrund der „Unbewusster Blindheit“. Und genau das passiert auch derzeit überall in Europa. Auch in Österreich. Menschen, die von der Politik und den Politiker:innen verdrossen sind, suchen eine Alternative oder gehen überhaupt nicht wählen.
Es gibt auch einen Großteil der Bevölkerung in Österreich, der gar nicht von den politischen Parteien wahrgenommen und ignoriert wird, und zwar die Gruppe der Migrant:innen. Die Einbürgerung wurde in den letzten Jahren durch noch schärfere Gesetze eingedämmt, das Wahlrecht ist nach wie vor ein Privileg für Staatsangehörige. Die Demokratie in Österreich ist exklusiv und grenzt aus. Und das ist der größte systemische Denkfehler. Menschen ausländischer Herkunft, die sich langfristig zu einem Leben hierzulande entscheiden, sind unerlässliche Träger:innen unserer Gesellschaft, auf die derzeit trotzdem noch immer nicht gehört werden will.
Selbst bei der Europawahl, wo Unionsbürger:innen prinzipiell wahlberechtigt sind, werden administrative und informative Hürden gestellt, die eine effektive Wahlbeteiligung hemmen. In Österreich geborene Menschen mit einer ausländischen Staatsbürgerschaft werden auch nicht grundsätzlich zu Wahlen zugelassen, obwohl sie ihr ganzes Leben wie die Österreicher:innen in diesem Land gelebt haben. All diese Menschen würden wohl kaum eine rechtsextreme Partei wählen, die ihnen und ihren Familienangehörigen direkt mit „Remigration“ droht. Niemand will eine Partei wählen, die mit der Abschiebung aus dem eigenen „zu Hause“ droht.
Von den ca. 1,8 Millionen Ausländer:innen in Österreich sind ca. 0,9 Mio. Bürger:innen aus den restlichen EU-Mitgliedstaaten. Mit einer Annahme von 15%, die nicht im wahlberechtigten Alter sind, gäbe es insgesamt ca. 1,3 Mio. Neuwähler:innen (0,7 Mio, EU-Bürger:innen). Das Versäumnis der Demokratie ist daher hier enorm.
Also, der Rechtsruck liegt an der nicht-gelebten Demokratie und der mangelhaften Wahrnehmung der schwachen Signale aus der Bevölkerung. Hätten die in Großbritannien lebenden 3 Mio. EU-Bürger:innen bei der Brexit-Abstimmung mitbestimmen können, wäre das mehr als ausreichend gewesen, um das „Nein“-Votum durchzusetzen. In Großbritannien konnte 2016 ein Australier dank dem Commonwealth-Wahlrechtssystem beim Brexit-Referendum mitbestimmen, eine auf der Insel ansässige Französin zum Beispiel dagegen nicht. Im Commonwealth of Nations dürfen die Staatsangehörigen eines Landes in einem anderen Land wählen. Sie haben eine politische Gemeinschaft, während das in der Europäische Union nicht der Fall ist. Obwohl die EU-Mitgliedstaaten näher geographisch, kulturell, wirtschaftlich und historisch zueinander als die Commonwealth-Staaten sind, werden EU-Staatsangehörige anderer Länder aus der Demokratie schon jahrzehntelang ausgeschlossen. Das ist einer der größten Systemfehler unserer Union, welchen wir so schnell wie möglich korrigieren sollten, damit wir unsere Demokratie aufrechterhalten können. Das Beispiel Neuseelands zeigt, dass mit der Erweiterung des Wahlrechts auf die ausländische Bevölkerung anti-migrantische politische Debatten an Bedeutung und somit auch rechtsextreme Parteien ihre Sündenböcke verlieren, weil der politische Kampf auch auf die Stimmen dieser Bevölkerungsgruppe abzielt.
Deswegen hat auch Schottland nach dem Brexit noch einen Schritt weiter nach vorne gemacht, indem es das Wahlrecht komplett für ausländische Staatsangehörige geöffnet hat. Wählen dürfen alle Einwohner:innen, die ihren Hauptwohnsitz in Schottland haben, sogar Flüchtlinge. Ja, genau. Die Bevölkerungsgruppe, die von Rechtsextremen am schauerlichsten entmenschlicht wird, darf ihre politische Stimme bei Wahlen kundtun. Das ist eine wahrhaft gelebte Demokratie, die alle Menschen einschließt und ohne jegliche Hürden mitbestimmen lässt.
Wir sollten unsere Demokratien in diese Richtung erneuern und neu gestalten, um die Struktur und Zusammensetzung unserer Gesellschaften abzubilden. Nur so können wir nachhaltig unsere demokratischen Werte aufbewahren und uns vor der Identitätspolitik der Rechtsextremen schützen. Wenn das schottische Modell für Österreich zu schnell zu weitgehend erscheint, könnten Wahlrechte auch erst stufenweise auf Migrant:innen ausgedehnt werden. Zuerst wird ein allgemeines Wahlrecht für Unionsbürger:innen auf allen Ebenen dafür sorgen, dass sich rechte Parteien das Werben mit dem EU-Austritt wohl eher dreimal überlegen werden. Die Ausdehnung des Wahlrechts ist höchste Zeit und eine demokratische Antwort auf rechtsextreme politische Kräfte, die auf die Spaltung unserer Gesellschaft abzielen. Die Erweiterung der Demokratie wird als natürlicher Schutz gegen Rechtsextremismus wirken.
Ina Dimitrieva
Citizen Empowerment Lead